GEDANKEN ZU GRUNDGESETZ, VOLKSSOUVERÄNITÄT UND VERFASSUNG IN DEUTSCHLAND
Immer wieder taucht in der öffentlichen Diskussion das Thema „Grundgesetz“ oder „Verfassung“ auf. Da auf dem Grundgesetz alle Pfeiler unseres Staates und auch dessen Zukunftsfähigkeit ruhen, lohnt sich seine nähere Betrachtung. Unser Grundgesetz ist unter den Verfassungen der Welt nicht die schlechteste. Es hat sich seit seiner Schaffung 1949 durchaus bewährt. Wir Deutschen sind froh, dass wir es haben und wir schätzen es hoch. Jedoch hat es einen grundlegenden Geburtsfehler.
Nach Prof. Hans Herbert von Arnim (deutscher Verfassungsrechtler und Parteienkritiker) wird als Verfassung inhaltlich das zentrale Rechtsdokument oder der zentrale Rechtsbestand eines Staates, Gliedstaates oder Staatenverbundes bezeichnet. Sie regelt den grundlegenden organisatorischen Staatsaufbau, die territoriale Gliederung des Staates, die Beziehung zu seinen Gliedstaaten und zu anderen Staaten, sowie das Verhältnis zu seinen Normunterworfenen und deren wichtigste Rechte und Pflichten. Die auf diese Weise konstituierten Staatsgewalten sind an die Verfassung als oberste Norm gebunden und ihre Macht über die Normunterworfenen wird durch sie begrenzt. Die verfassunggebende Gewalt geht in demokratischen Staaten vom Staatsvolk aus.
Die Verfassung ist politisch nichts anderes als die in Rechtsform gebrachte Selbstverwirklichung der Freiheit des Volkes. Die Schaffung der Verfassung in freier Mitbestimmung als politisch-rechtliche Grundlage eines Gemeinwesens ist Sache des Volkes und Ausdruck der Volkssouveränität! Sie ist unverzichtbares und unabdingbares Recht des Volkes.
DIESES RECHT AUF MITWIRKUNG AN DER VERFASSUNG GEHÖRT ZU DEN UNVERLETZLICHEN UND UNVERÄUSSERLICHEN MENSCHENRECHTEN!
Dafür haben seit der Zeit der Aufklärung viele Völker aufopferungsvoll gestritten!
Nur solche Verfassungen gelten als demokratisch legitimiert, die das Volk sich selbst gegeben hat.
Vor diesem Hintergrund drängt sich nun die Frage auf: In wie weit ist das deutsche Volk überhaupt souverän?
Konnte es sich tatsächlich selbst eine Verfassung als politisch-rechtliche Grundlage in freier Mitbestimmung geben?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir noch einmal ins Jahr 1949 zurückblicken.
DAMALS HERRSCHTE KEINE VOLKSSOUVERÄNITÄT IN DEUTSCHLAND
Das Grundgesetz von 1949 beruhte nicht auf der ureigenen Entscheidung des deutschen Volkesselbst, denn die westlichen Besatzungsmächte bestimmten über die Entstehung des Grundgesetzes. Sie nahmen maßgeblich Einfluss auf seinen Inhalt und behielten sich seine Genehmigung vor. Ein Parlamentarischer Rat wurde von den Landesparlamenten eingesetzt, die das Grundgesetz mehrheitlich beschlossen. Nach den Landesverfassungen waren die Landesparlamente zu einer Entscheidung von solcher Tragweite aber gar nicht befugt. Deshalb ist festzuhalten, dass sie für diesen Beschluss keine Ermächtigung des Volkes besaßen. Die westdeutsche Bevölkerung durfte nicht abschließend über die Annahme des Grundgesetzes abstimmen.
Konrad Adenauer bekannte 1949:
„Wir sind keine Mandanten des deutschen Volkes, wir haben den Auftrag von den Alliierten.“
Da aber im Grundgesetz anerkannt wird, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgehen sollte, stellte Heinrich von Brentano (CDU) einen Antrag über die Abstimmung durch das Volk:
„Indem wir anerkannt haben, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgeht, haben wir ein unverzichtbares, aber auch unabdingbares Recht des Volkes anerkannt, über sein politisches Schicksal selbst zu entscheiden. Nicht wir, sondern nur die Gesamtheit des Volkes kann die Verfassung mit dem Vertrauen ausstatten und sie damit zu lebendiger Wirksamkeit bringen, die für eine gesunde Entwicklung unserer Demokratie Voraussetzung ist.“
Artikel 20, Abs.2: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Der Wortlaut dieses Antrages, der eine deutliche und klare Sprache spricht, stellt ein Musterbeispiel gelebter und verinnerlichter Demokratie dar, wie man sie heute bei den politischen Verantwortlichen vergeblich sucht!
BEDAUERLICHERWEISE WURDE DER VON HEINRICH VON BRENTANO GESTELLTE ANTRAG ABGELEHNT (VON DER MEHRHEIT NIEDERGESTIMMT)!
Dieses Scheitern einer zumindest nachträglichen Legitimation des Grundgesetzes durch das Volk lässt erkennen, dass die immer wieder beschworene Volkssouveränität nicht existiert. Eine Verfassung in freier Mitbestimmung des Volkes wurde nicht geschaffen. Immerhin gab es hierfür in jener Zeit eine nachvollziehbare Rechtfertigung durch die historischen Umstände.
DAS VOLK IST MÜNDIG
Es war nicht ganz abwegig, dem deutschen Volk unmittelbar nach der Hitlerdiktatur zu unterstellen, dass es zumindest bis zum Erlangen einer gewissen demokratischen Reife politisch unmündig sei. Aber nach weit mehr als 70 Jahren Demokratie im Westen und nach einer erfolgreichen basisdemokratischen Revolution im Osten („Wir sind das Volk“) ist diese Begründung im heutigen Kontext selbstverständlich als hinfällig zu betrachten. Die Gelegenheit, hier dringende Abhilfe zu schaffen und das verfassungsmäßige Legitimationsdefizit zu bereinigen, hätte sich in idealer Weise anlässlich der Wiedervereinigung Deutschlands ergeben, wurde jedoch (bewusst?) nicht wahrgenommen bzw. verpasst.
Dieses Versäumnis erscheint uns um so unverzeihlicher, als für genau diesen Glücksfall der deutschen Geschichte im Grundgesetz Vorsorge getroffen war:
In Art. 146 sieht das Grundgesetz für den Fall der deutschen Wiedervereinigung seine eigene Ablösung vor, nämlich zu dem Zeitpunkt, „wenn eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volk in freier Selbstbestimmung beschlossen worden ist“.
AUF DIESE, VOM DEUTSCHEN VOLK IN FREIER SELBSTBESTIMMUNG ZU BESCHLIESSENDE VERFASSUNG WARTEN WIR JEDOCH – 30 JAHRE SPÄTER – NOCH HEUTE.
Sicher nahm Art. 146 ursprünglich Bezug auf die Wiedervereinigung Deutschlands in den Vorkriegsgrenzen. Dieser Umstand dürfte jedoch 1990 mit Gewissheit nicht der Hinderungsgrund für die Durchsetzung des Grundgesetzauftrags gewesen sein. Man hätte also zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung – selbstverständlich unter Mitwirkung des gesamten deutschen Volkes – die historische Chance wahrnehmen und das Thema aufgreifen können! Bei der Wiedervereinigung wurde dieser Auftrag aber geflissentlich nicht auf die Tagesordnung gesetzt!
Es wurde dem deutschen Volk die Gelegenheit vorenthalten, seine Verfassung demokratisch zu legitimieren, was nicht weniger bedeutet als, dass es nicht souverän war und es bis heute nicht ist. Diese Tatsache gilt unabhängig von der Frage der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands, welche ich an dieser Stelle aber ausblenden möchte. Streng genommen hat unser Grundgesetz somit bis heute keine demokratische Legitimation und stellt im Grunde weiterhin eine Übergangslösung dar.
Um die Volkssouveränität endlich herzustellen, muss das Thema Grundgesetz auf die Tagesordnung gebracht werden. Da unser Grundgesetz zwar nicht vom Volke beschlossen wurde, aber ein brauchbares Grundgesetz ist, mit dem wir schon lange leben, sollte es vorerst nicht zur Disposition stehen, sondern unter Mitwirkung des souveränen Volkes verbessert und ergänzt werden. Elemente der direkten Demokratie – wie etwa der Volksabstimmung auch auf Bundesebene – sollten bei diesem Bemühen um eine vom Volk geschaffene Verfassung an vorderster Stelle stehen.
Bei aller Begeisterung für dieses Anliegen sollte man jedoch auch Umsicht walten lassen. Ein gänzlich neues Verfassungsgesetz in der gegenwärtigen Lage birgt nämlich durchaus auch einige Gefahren. Deutschland könnte sich in diesem Fall selbst abschaffen und das Grundgesetz würde möglicherweise geöffnet werden für einen neuen Staat, für einen Unionsstaat und ein neues Volk, das Unions-Volk (EU). Dieser Auffassung neigt Prof. Albrecht Schachtschneider (Prof. für Freiheits- Rechts- und Staatslehre) zu. Die jahrzehntelange Einwirkung der offiziellen, gegen das Prinzip des herkömmlichen Nationalstaats gerichteten Propaganda auf die Bürger ist sicher nicht spurlos an den Menschen vorbeigegangen. Viele sind in dieser Hinsicht verunsichert und durch die Rhetorik der angeblichen Alternativlosigkeit zeitgeistnaher Vorstellungen eingeschüchtert. Die politisch herrschenden Parteien dürften ihren Einfluss darauf richten, in Zeiten einer sich ständig verschärfenden Krise der EU die Verfassung in Richtung eines großen europäischen Zentralstaates zu ändern, um damit vollendete Tatsachen zu schaffen, und kaum bemüht sein, eine Verfassung für das deutsche Volk unter Einbeziehung dieses Volkes zu schaffen.
Was auch immer mit dem Grundgesetz geschehen wird:
Zentraler Punkt unserer Aufmerksamkeit sollte die Beteiligung aller demokratischen Kräfte in Deutschland an der weiteren Gestaltung der Verfassung sein.
Es muss auf jeden Fall verhindert werden, dass die Bürger weiterhin als Unmündige aus diesem Prozess ausgeschlossen werden, dass sie wieder nicht gefragt werden und damit weiterhin nicht souverän sind!
Wir wollen wieder mündige Bürger sein!
Autor: Wolfgang Kräher
Bad Dürkheim, 2016/2020